„Es kam einst zu einem ungeheu-ren, einem echten Titanenkampf. Alle Tugenden und alle Laster ran-gen miteinander auf Leben und Tod. Furchtbare Wunden klafften, in Strömen floss das Blut. Hinterlist und Tücke hatten die Gerechtigkeit überwältigt und ihr den Arm ge-lähmt. Zerfleischt von den Zähnen und Klauen des Hasses und der Ei-fersucht erstarb die Liebe. Die Großmut röchelte unter den wür-genden Händen der Habgier. Vielen Tugenden erging es schlecht an dem Tage, aber auch viele Laster mein-ten, den Rest bekommen zu haben. In der ganzen großen Heerschar blieb nur eine unversehrt; es war die Güte. Mit Steinen beworfen, von den Pfeilen des Undanks durchbohrt, hundertmal niedergezwungen, er-hob sie sich immer wieder, unver-wundbar, unüberwindlich, und trat von neuem in den wütenden Kampf. Es wurde Abend und Nacht; der Streit blieb unentschie-den, die Streiter lagen erschöpft. Die Güte allein wandelte über die Walstatt, munter wie ein sprudeln-der Quell, lieblich wie das Morgen-rot, und labte die Leidenden, und in dem Augenblick ließen sogar ihre Feinde es gelten: Die Stärkste bist du!” Marie von Ebner-Eschenbach